Dunkle Jahrhunderte…
Nach dem Erfolg der Seevölker um 1200 v. Chr. begannen die sogenannten »Dunklen Jahrhunderte«, die bis ins 8. vorchristliche Jahrhundert andauerten. Nicht nur in Kleinasien zerbröselten die festen, übergreifenden Machtstrukturen. In Ägypten haben wir ja nach Ramses II. eine Phase der Wirren und des Niedergangs erlebt. Auch in Griechenland endete, wie wir in Kürze sehen werden, in der Zeit zwischen 1200 v. Chr. und 1050 v. Chr. die sogenannte Mykenische Palastzeit. Dunkel nennt man diese Phase, weil sich wenig bis keine archäologischen Funde, insbesondere Schriftquellen finden lassen. Vor allem die Zeit zwischen 1050 v. Chr. bis 800 v. Chr. immerhin 250 Jahre, die Zeitspanne von der Französischen Revolution bis heute, bieten wenig Material, um die Geschehnisse der Zeit zu erschließen.
Es lässt sich natürlich nicht ausschließen, dass die Einschätzung nur an mangelnden Funden liegt und sich nach der nächsten Grabungssession an einem bisher nicht untersuchten Hügel alles ändert. Wahrscheinlich ist dies aber nicht. Zum einen ist der Erfolg der Seevölker ja auch dadurch zu erklären, dass die bestehenden Reiche, allen voran die Hethiter, aufgrund von Dürre und Erdbeben massiv geschwächt waren. Diese klimatischen Belastungen hörten ja nicht von heute auf morgen auf und einen politisch und kulturell hochstehenden Staat baut man auch nicht zwischen Mittagspause und Abendbrot auf. Insofern können wir davon ausgehen, dass es in Griechenland und Kleinasien in dieser Zeit zu einem deutlichen Entwicklungsrückschritt kam, der in Kleinasien letztlich der Ausbreitung der Perser nützte.
…und wirtschaftlicher Erfolg
Dies ist die eine Sicht der Dinge. Auf der anderen Seite stand das Leben ja nicht still und die Menschen versuchten, das Beste aus ihrer Situation zu machen. Mutige suchten ihr Heil in der Fremde, bauten Boote, fuhren übers Meer und trieben Handel. Kaufleute taten sich insbesondere in Phönizien zusammen, um größere Schiffe zu bauen und fernere Küsten zu erreichen und dort Tauschhandel zu betreiben. Wieder zu Hause angekommen, konnten sie mit guter Marge die mitgebrachten Waren weiterverarbeiten und zu Geld machen und die nächsten Expeditionen finanzieren. Mit der Zeit entstanden Kolonien im Ausland, die es ermöglichten, auch auf die Ressourcen im jeweiligen Hinterland zuzugreifen. Das alles war nicht ethnisch oder politisch konnotiert, es ging um Profit und die Verbesserung des eigenen Lebens. Nicht jeder war erfolgreich, die Erfolgreichen wurden aber reich und bildeten so die Keimzelle der künftigen Oberschicht. Durch die Gründung der Kolonien konnten entstehende Bevölkerungsüberschüsse beispielsweise auf das griechische Festland verlagert und die Entstehung eines Prekariats verhindert werden. Dies war in Zeiten, in denen Dürre herrschte und die Landwirtschaft entsprechend wenig produzieren konnte, ein probater Weg, Konflikte zu vermeiden. Für diese Menschen war es eine Zeit des Aufbruchs und Erfolgs. Mit einem Verweis darauf, dass man ja in Dunklen Jahrhunderten lebe, hätte man nur Stirnrunzeln geerntet. There are two sides to every story, sagt der Angelsachse und da hat er mal wieder Recht.
Im Sinne einer logischen Entwicklung müssten wir jetzt direkt nach Griechenland springen. Die Lydier haben ja gerade über die Eroberung und die Kooperation mit den griechischen Städten in Kleinasien eine kulturelle Entwicklung eingeschlagen, die zunehmend auch griechische Elemente aufnahm und auf der anderen Seite auch auf die Entwicklung der griechischen Kultur wirkte. Wir gönnen uns vorher aber noch drei Runden: zuerst in der Levante bei den Phöniziern und in Israel und dann bei den Minoern. Mit diesen können wir dann schön zur eigentlichen griechischen Geschichte überleiten.
Philister
Warum gönnen wir uns diesen Ausflug? Zum einen hatten die Phönizier einen prägenden Einfluss auf die gesamte Entwicklung im Mittelmeerraum und zum anderen ist Israel die Wiege der jüdisch-christlichen Kultur, die weit über das Mittelmeer hinaus die gesamte westliche Zivilisation geprägt hat. Auch wenn wir uns in dieser Erzählung sehr auf die politische und weniger auf die kulturell-religiöse Ebene konzentrieren, können und wollen wir an diesen beiden Kernen der gesamtgeschichtlichen Entwicklung nicht einfach vorbei gehen.
Wir haben gesehen, dass beim Seevölkersturm auch die Philister dabei waren. Diese wurden von den siegreichen Ägyptern in der Levante angesiedelt. Kern war der Fünf-Städte-Bund aus Aschdod, Aschkelon, Ekron, Gat und Gaza. Im Zuge des Rückzugs der Ägypter aus dieser Gegend wurden die Philister regionale Vormacht und drangen auch ins Landesinnere vor. Der Kampf des Philisters Goliath aus der Stadt Gat mit dem Israeliten David findet sich als schöne Geschichte in der Bibel. 732 v. Chr. kamen dann die Assyrer unter Tiglatpilesar III. und unterwarfen den Städtebund. Ende des 5. Jahrhunderts v. Chr. verlieren sich die Philister als eigenständige Gruppierung. Wir müssen uns also nicht weiter um sie kümmern.
Phönizier
Auch die Phönizier organisierten sich hauptsächlich in Stadtstaaten. Sidon, Tyros, Byblos und Berytos, das heutige Beirut, sind Beispiele. Das Verbreitungsgebiet lag nördlich von dem der Philister, dazwischen finden wir auch noch das Königreich Israel. Die phönizischen Städte waren Hafenstädte und lagen am Ende von Karawanenstraßen, die aus den entwickelten Staaten im Osten zum Mittelmeer führten.
In den Auseinandersetzungen mit dem Islamischen Staat in den 2010er-Jahren fiel hier der Blick der Weltöffentlichkeit auf die zerstörten Ruinen von Palmyra, einer Oase in der syrischen Wüste, die eine wichtige Handelsstation auf dieser Route war. Wir werden ihr im 3. Jahrhundert n. Chr. zur Zeit der Römer noch einmal begegnen. Der Blick in den phönizischen Hafenstädten ging dann weiter gen Westen hinaus aufs Meer. Ihre Städte waren ideale Warenumschlagsplätze, bestens geeignet zum Handeln und Geld verdienen. Zum Landesinneren hin waren sie durch die Gebirgszüge des Anti-Libanon geschützt, was irgendwann allerdings nicht mehr gegen eine assyrische Oberherrschaft half, die allerdings auch nur die vorherigen der Ägypter und Hethiter ablöste. Solange man in Ruhe Handel treiben konnte, die Tributzahlungen erträglich waren und die Großmächte für Ruhe und Ordnung sorgten, war es den Städten eigentlich relativ egal, welcher Großkönig oder Pharao gerade am Drücker war. Frei von Hinterland und eigenen Rohstoffen bestimmte der Fernhandel das Leben.
Auf die Phönizier schauen wir auch, weil ihre Wirkung deutlich über ihr ursprüngliches Verbreitungsgebiet hinaus ging. Ab 1100 v. Chr. begannen sie mit der Gründung von Stützpunkten im Mittelmeerraum, hauptsächlich als Handelsfaktoreien. Zypern, Sizilien, Malta, Sardinien, die nordafrikanische Küste, Südspanien und die Balearen wurden von ihnen geprägt. Sie wagten sich auch über die Straße von Gibraltar hinaus, das heutige Cádiz ist als phönizische Kolonie gegründet worden. Bis zu den Azoren im Westen, den Britischen Inseln im Norden und dem Golf von Guinea im Süden reichten ihre Reisen. Willkommen waren sie dabei nicht überall, wie die mächtigen erhaltenen Befestigungsanlagen ihrer Stützpunkte in Spanien beweisen. Silber wurde von dort importiert, aufwendig zu Prunkgeschirr verarbeitet und weiterverkauft. Veredelung und Aufwertung von Waren war ein wesentlicher Geschäftszweig.
Der Bezeichnung »Phönizier« stammt von den Griechen und hat seine Wurzel in dem aus der Purpurschnecke gewonnenen roten Farbstoff. Die von sidonischen Frauen gefertigten Purpurgewänder schafften es bis in die Werke von Homer.
Die wichtigste und bekannteste Kolonie ist sicherlich Karthago, das erstmals bereits im 12. Jahrhundert v. Chr. von Sidon gegründet wurde. Erst die 814 v. Chr. durch Tyros als Neustadt, phönizisch Qart-Hadascht, erfolgte Neugründung wurde dann zu beherrschenden Macht des westlichen Mittelmeers. Höhepunkt und Niedergang dieser Stadt werden wir uns anschauen, wenn wir bei den Römern unterwegs sind.
Die Fähigkeiten der Phönizier als Seefahrer sind unbestreitbar. Die Zedern des Libanon spielten hier eine nicht unbedeutende Rolle. Mit ihnen ließen sich größere und belastbarere Schiffe bauen, die auch für weitere Strecken und den Transport größerer Handelsgüter gut geeignet waren. Nicht belegbar ist die von Herodot berichtete Umrundung Afrikas um 600 v. Chr. zu Zeiten Pharaos Nechos II., ganz unrealistisch erscheint es allerdings auch nicht. Ebenso gibt es Thesen, dass Phönizier (wahrscheinlich die Karthager) Südamerika und – das scheint sehr sicher – die Azoren entdeckt haben könnten. Zumindest traut man es ihnen zu.
Wir dürfen nicht den Fehler machen, die Fähigkeiten der Menschen in der Antike zu unterschätzen. In einem Wrack aus dem ersten Jahrhundert v. Chr. hat man beispielsweise vor der griechischen Insel Antikythera zwischen Kreta und der Peloponnes ein Gerät gefunden, dass eine astronomische Uhr darstellt, den sogenannten Antikythera-Mechanismus. Sonnen- und Mondphasen und die Umläufe der seinerzeit bekannten fünf Planeten (Merkur, Venus, Mars, Jupiter, Saturn) wurden über einen komplexen Mechanismus abgebildet, wobei auch der bei der Venus 462 und beim Saturn 442 Jahre dauernde Zyklus Berücksichtigung fanden, in denen sich bestimmte Positionen oder Begegnungen der Himmelskörper wiederholen. So eine Konstruktion würden heute nur wenige von uns an einem Nachmittag hinkriegen. Bleiben wir also respektvoll.
Auf jeden Fall ist es erstaunlich, welchen Einfluss die Aktivitäten von ein paar Städten in der Levante auf den gesamten Mittelmeerraum hatten. Als Handelsvolk waren die Phönizier nie wirklich an der Gründung eines Reiches interessiert, auch wenn die Ausdehnung der großen Reiche in der Weltgeschichte fast immer durch den Handel und entsprechende mutige Aktivitäten der Kaufleute vorbereitet wurden. Eine phönizische Reichsbildung gab es erst durch Karthago, das aber zu diesem Zeitpunkt keine phönizische Stadt im engeren Sinne mehr war. Die levantinischen Städte lagen im Grenzgebiet zwischen dem hethitischen und dem ägyptischen Reich und hatten die Assyrer im Rücken. Die großen Reiche bestanden auf Tributen, ließen den Städten aber ihre innere Autonomie und Freiheiten im wirtschaftlichen Handeln. Diese agierten in diesem Rahmen sehr erfolgreich, allerdings untereinander nur bedingt solidarisch. Konflikte zwischen Sidon und Tyros zogen sich beispielsweise über Jahrhunderte hin. Nach dem Untergang der Hethiter und der gleichzeitigen Schwächung Ägyptens durch die Seevölker änderten sich die Machtstrukturen. Im Süden bauten die Philister ihren Städtebund, im Osten hinter dem Anti-Libanon wuchs die Macht der Aramäer und im palästinensischen Binnenland entstand das Reich der Hebräer. Dort schauen wir in der nächsten Folge noch ein wenig intensiver hin. Zwischen diesen Machtstrukturen konnten sich die phönizischen Städte lange Zeit behaupten. Wir werden Alexander noch gegen Tyros kämpfen sehen.
Im 9. Jahrhundert v. Chr. gelang es Assurnasirpal II. (reg. 883 bis 859 v. Chr.) die Levante unter assyrische Oberherrschaft zu bringen. Wieder wurden Tributzahlungen fällig, wieder konnte die wirtschaftliche Autonomie im Grundsatz erhalten bleiben. Die Handelsbeziehungen wurden aufgrund der Größe des assyrischen Reiches sogar ausgebaut. Assur war froh, sich nicht allzu sehr um die phönizischen Städte kümmern zu müssen, weil auf der anderen Seite des Anti-Libanon rund um und südlich von Damaskus das aramäische Reich nachhaltigen Widerstand leistete. Die Aramäer sind auch insofern wichtig, als die aramäische Sprache, die heute als Neuaramäisch immer noch von 550.000 bis 850.000 Menschen, vornehmlich zwischen Israel und dem Iran, gesprochen wird, seinerzeit eine internationale Handels- und Diplomatensprache war. Insbesondere im Perserreich war es eine der Staatssprachen und verdrängte als sogenanntes Reichsaramäisch das Elamitische, Hebräische, Phönizische und Babylonische. Wie schon in Kleinasien sehen wir auch hier viele kleine Völker und Reichsgebiete, denen wir unmöglich allen gerecht werden können.
Nach den Assyrern kamen wieder die Ägypter, dann die Chaldäer aus Babylonien mit Nebukadnezar II. (reg. 605 bis 562 v. Chr.), der uns auch das nächste Mal in Israel begegnen wird. Danach waren die Perser mit Kyros II. (reg. 559 bis 530 v. Chr.) an der Reihe. Auch mit diesen fanden die Phönizier grundsätzlich ein relativ erträgliches Einvernehmen, da sie eben fern jeglicher eigenen machtpolitischen Ambitionen waren. Anders sah es dann mit Alexander III. von Makedonien aus. Byblos und Sidon unterwarfen sich, Tyros taktierte. Das ist gegenüber einem jungen, erfolgreichen Kriegsherrn risikoreich. So wundert es nicht, dass Alexander die Stadt 332 v. Chr. nach siebenmonatiger Belagerung zerstörte. 130 Jahre später endete auch Karthagos Macht, phönizisch-punische Eigenstaatlichkeit gehörte der Vergangenheit an. Alexander baute Tyros im Übrigen wieder auf, es wurde in Folge der wichtigste makedonische Hafen in der Levante.
Wären wir Wirtschaftshistoriker, könnten wir jetzt schöne Parallelen zur heutigen Welt ziehen, in denen wirtschaftliche und politische Macht ja auch nebeneinander und ineinander verwoben existieren. Was kann eine EU tun, um Unternehmen wie Meta an die Einhaltung von Regeln zu binden? Bevor wir jetzt eine Diskussion führen müssen, ob es fair ist, Facebook mit den Phöniziern zu vergleichen, und wer sich vor einem solchen Vergleich mehr fürchten müsste, gehen wir das nächste Mal lieber ein paar Schritte Richtung Süden.