Ein willkürlicher Schnitt
Bisher haben wir in großen Schritten den Weg von der Entstehung der Welt in die Menschheitsgeschichte bewältigt. Wir haben die frühen Hochkulturen kennengelernt und uns intensiv mit Ägypten, Griechenland und dem Römischen Reich auseinandergesetzt, das wir das letzte Mal zugegebenermaßen etwas unaufgeräumt zurückgelassen haben. Den Zeitgenossen wäre unser Einschnitt im Jahr 395, als Arcadius die Macht im Osten und Honorius die im Westen übernahmen, wie gesagt als vollkommen abstrus vorgekommen. Das Reichsgebiet war schon so oft zwischen zwei oder sogar vier Kaisern und dem ein oder anderen Usurpator aufgeteilt gewesen, das war ja nun wirklich nichts Neues. Niemand ahnte, dass die Aufteilung auf die Söhne Theodosius' I. endgültig sein würde. Auch die Herrscher selbst gingen selbstredend weiterhin von einem einheitlichen Römischen Reich aus. Wir wissen, dass es diesmal nicht mehr zu einem Zusammengehen der beiden Reichsteile kam, dass im Gegenteil die Entwicklungen am langen Ende in sehr unterschiedliche Richtungen liefen.
Geschichte ist nach vorne offen. Wie das Leben jedes einzelnen Menschen verläuft auch die Menschheitsgeschichte nicht linear und nicht in fest abgegrenzten Etappen. Der Versuch einer konsistenten Erzählung birgt immer das hohe Risiko der Verfälschung. Narrative, die aus der Rückschau logisch und zwingend erscheinen, waren dies zum Zeitpunkt des Geschehens beileibe nicht. Unser Grund, die aus der Rückschau als endgültig betrachtete Teilung des Römischen Reichs im Jahr 395 als Unterbruch zu wählen und die Erzählung mit dem Fokus auf die Völkerwanderung neu aufzusetzen, lässt sich aus heutiger Sicht ganz gut begründen. Honorius und Arcadius hätten dagegen mit dem Kopf geschüttelt. Wir wissen, wie es weiterging. Aus dem Weströmischen Reich entwickelten sich durch den Druck von außen viele von germanischen Völkern dominierte Staaten im Westen und Süden Europas sowie in Nordafrika. Aus dem Oströmischen Reich erwuchs Schritt für Schritt das Byzantinische. Diese Entwicklung wollen wir uns in den kommenden Folgen anschauen.
Bevor wir in medias res gehen, gönnen wir uns einen kurzen Überblick über das, was da auf uns zukommt.
Goten erobern Rom
Ab etwa 375 zogen die Hunnen aus der zentralasiatischen Steppe nach Westen und unterwarfen zunächst die Alanen und in Folge mit den Greutungen und Terwingen die beiden nördlich des Schwarzen Meeres siedelnden gotischen Völker. Insbesondere die Terwingen drängten in das Römische Reich. Über die daraus entstehenden Konflikte haben wir in Teilen bereits gesprochen. 378 fiel Kaiser Valens in der Schlacht von Adrianopel. Theodosius I. fand 382 ein Agreement mit den Goten, die an der unteren Donau eine Heimstatt bekamen. Nach seinem Tode dominierten insbesondere im Westreich immer mehr die Heermeister (magister militum lautete der Titel) die Politik. Unter Honorius war dies Stilicho. Der hatte einiges zu tun. Er versuchte, in dem latenten Konflikt mit Ostrom um die Vorherrschaft in Illyrien und im Gesamtreich die Truppen Alarichs (um 370 bis 410, reg. 395 bis 410) und seiner Westgoten zu nutzen, die nach der Vertreibung durch die Hunnen sicheres Siedlungsland suchten. Alarich fühlte sich dabei ungerecht behandelt. Die mit Theodosius geschlossenen Verträge sah er gebrochen und begann, plündernd durch den Balkan zu ziehen. Stilicho konnte ihn zwar besiegen, verzichtete jedoch darauf, ihn vollständig zu vernichten. Das war keine gute Idee. Da sich für Alarich keine Lösung für sein Volk bot, zog er im Jahr 410 gen Rom. Er eroberte die Stadt und erbeutete ihre Schätze. Ein schöner Erfolg, aber sein eigentliches Ziel hatte er damit nicht erreicht. Erst acht Jahre später wurde den Westgoten Siedlungsraum gewährt. Rom brauchte mal wieder Hilfe.
Vandalen ziehen nach Afrika
418 wurden die Westgoten unter seinem Nach-Nachfolger Wallia (gest. 418, reg. 415 bis 418) in Aquitanien angesiedelt. Als Foederaten Roms sollten sie helfen, die Vandalen, Alanen und Sueben in Schach zu halten, die am Jahreswechsel 406/407 bei Mainz den Rhein überschritten hatten. Während Franken und Burgunder, die hier in einem solchen Foederatenverhältnis bereits vorher gesiedelt hatten, in Nordfrankreich blieben, zogen diese drei Völker immer weiter nach Süden. Dabei hatten sie durchaus mit dem Widerstand der Römer zu kämpfen. Sie profitierten allerdings auch von den zunehmenden innerrömischen Machtkämpfen.
Zunächst stand ihnen mit Flavius Claudius Constantinus (gest. 411), der in der Geschichte auch als Konstantin III. bezeichnet wird, ein Usurpator gegenüber, der sich 407 in Britannien zum Gegenkaiser erhoben und in Folge auch Gallien unter seine Herrschaft gebracht hatte. Dieser wurde dann allerdings 411 von Flavius Constantius (gest. 421, reg. 421) geschlagen, einem Feldherrn von Honorius und nach Stilichos Tod 408 der neue starke Mann Westroms, zum Schluss sogar als Constantius III. kurzzeitig Kaiser. Letztlich ließ sich der Zug der Germanen nach Süden nicht aufhalten. 429 setzten die Vandalen nach Afrika über.
Aëtius schlägt die Hunnen
Im Weströmischen Reich war mittlerweile Aëtius (um 390 bis 454) Heermeister und Herr der Geschicke. Er schlug 436 die Burgunder und konnte 451 in der berühmten Schlacht auf den Katalaunischen Feldern im Verein mit den Westgoten die Hunnen besiegen, die unter ihrem Anführer Attila (gest. 453, reg. 434/435 bis 453) ihren Platz im Römischen Reich beanspruchten. In Gallien zurückgeschlagen versuchten sie es danach in Italien, auch hier letzten Endes ohne Erfolg. 453 starb Attila und das Reich der Hunnen zerfiel.
Andere Reiche entstanden. In Britannien, das seit der Usurpation Konstantins nicht mehr vom in Ravenna Hof haltenden Kaiser regiert wurde, siedelten die Sachsen. Sie waren 440 vom Kaiser dorthin gesandt worden, um als Foederaten zumindest den römischen Einfluss zu sichern, hatten jedoch rebelliert.
Vandalen und Westgoten bleiben unruhig
Ein ständiger Unruheherd blieben die Vandalen unter ihrem König Geiserich (um 389 bis 477, reg. 428 bis 477). Sie hatten in Nordafrika die Kornkammer Italiens unter Kontrolle und nutzten diese Situation immer wieder aus. 455 plünderten sie (nach den Westgoten im Jahr 410) erneut Rom.
Die Westgoten finden wir zu dieser Zeit in Spanien bei Astorga im Kampf gegen die Sueben an römischer Seite – allerdings nicht lange. Ab 468 baute Eurich (um 440 bis 484, reg. 466 bis 484) in Spanien ein eigenes Reich auf, das Foederatenverhältnis mit Westrom war gekündigt. 476 endete das Weströmische Reich mit der Machtergreifung Odoakers (um 433 bis 493, reg. 476 bis 493), der dann 493 von dem Ostgoten Theoderich getötet wurde.
In Gallien gewannen die Franken zusehends die Vorherrschaft, 507 vertrieben sie die Westgoten nach Spanien. 534 eroberten sie das Reich der Burgunder.
Justinians Rollback scheitert
Im 6. Jahrhundert versuchte insbesondere Justinian I. (um 482 bis 565, reg. 527 bis 565) von Konstantinopel aus, das alte Römische Reich wieder herzustellen. 533/34 konnte Belisar das Reich der Vandalen in Nordafrika erobern. Auch das Reich der Ostgoten in Italien und Illyrien fiel im Jahr 552. Allerdings fehlt Ostrom die Kraft, das erschöpfte Land wieder aufzubauen. Die Langobarden nutzen die Situation und eroberten 568 Oberitalien. Auch die restlichen Eroberungen Justinians gingen dann in den kommenden Jahrzehnten sukzessive wieder verloren.
Was wurde aus den Cheruskern?
In diesem Rahmen werden wir uns in den nächsten Folgen bewegen. Wir haben nun zumindest eine grobe Linie im Hinterkopf. Wenn diese Dir etwas verworren erscheint, dann hast Du die Grundzüge dieser Zeit schon sehr gut verstanden. Aber der Reihe nach. Wir wollen im Folgenden etwas näher kennenlernen, welche Geschichte die (vorwiegend) germanischen Völker hatten und wie sie sukzessive die Macht in den bisher vom Weströmischen Reich beherrschten Gebieten übernahmen.
Wir erinnern uns an Arminius und Marbod, die zur Zeitenwende die Welt nördlich der Alpen mitbestimmten. Cherusker und Markomannen tauchen in den Berichten vierhundert Jahre später nicht mehr auf. Was war passiert? Vierhundert Jahre sind eine lange Zeit. Die einzelnen Stämme haben sich verbunden, geteilt, sind in neue Gegenden gezogen, die attraktiver schienen und wurden dort im Zweifel auch anders genannt, als wir es aus den Schilderungen der römischen Kaiserzeit gewohnt waren. Wir werden das auch mangels verlässlicher Quellen nicht im Einzelnen aufdröseln können. Wenn wir die Geschichte vom Ende her denken, dann sollten wir uns um die Völker kümmern, die in dieser Zeit eigene Reiche bilden konnten. Dies sind
- die Westgoten in Aquitanien, Südfrankreich und fast ganz Spanien
- die Vandalen in Nordafrika mit Korsika und Sardinien
- die Sueben in Nordwestspanien
- die Alamannen in Südwestdeutschland
- die Franken von der Rheinmündung bis südlich Mainz und im Westen bis in die Normandie
- die Burgunder am Oberlauf der Rhône bis in die Schweiz
- die Sachsen zwischen Niederrhein und Elbe, später zusammen mit den Angeln als Angelsachsen in Britannien
- die Thüringer in Mitteldeutschland
- die Ostgoten in Italien und Illyrien
- die Langobarden in Norditalien
Hinzu kommen die uns schon bekannten nichtgermanischen Hunnen und Alanen.
Zu Beginn des 5. Jahrhunderts war die Vertreibung der Goten durch die Hunnen das prägende Momentum. Insofern ist es naheliegend, dass wir uns das nächste Mal als Einstieg in die Zeit der Völkerwanderung mit den Hunnen beschäftigen.
Ein intensives 5. Jahrhundert wartet auf uns.