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(106) Die Hunnen

Brett und Bömmel

Wer den Film "Die Feuerzangenbowle" - entgegen allen Gerüchten nicht in den 1970er-Jahren am Johanneum in Lüneburg gedreht - kennt, der wird sich an die Szene erinnern, in der der Schüler Knebel den Weg der Goten während der Völkerwanderung erklären soll. Sein Mitschüler Pfeiffer (mit drei "f", gespielt von Heinz Rühmann) hilft ihm, indem er mit einem kleinen Spiegel das Sonnenlicht auf die entsprechenden Regionen an der Karte lenkt. Herr Brett, der Lehrer, kommt Pfeiffer aber auf die Schliche und fragt ihn nach seinem Trick an Regentagen. Der Physiklehrer, Bömmel, hätte die Sache sicherlich anders begonnen: Aha, heute kreje mer die Völkerwanderung. Also, wat is en Völkerwanderung? Da stelle mer uns janz dumm. Und da sage mer so: En Völkerwanderung, dat sin Völker und dat is ene jroße Jejend, in der se wandern. Wer warum wohin jewandert is, dat krieje mer später.

 

Herkunft 

Wir wollen es, etwas humorlos, nicht dabei bewenden lassen und nun mit diesem "später" beginnen. Alles begann mit den Hunnen. Wer die Hunnen waren, wissen wir nicht wirklich. Ebenso wie bei den Skythen, die uns schon hie und da über den Weg gelaufen sind, sprechen wir von Nomadenstämmen, die in der weiten Steppenlandschaft zwischen Osteuropa und Sibirien gelebt haben. Lange dachte man, dass sich die Hunnen aus dem Stammesverband der Xiongnu entwickelt hätten, Reiternomaden, die zwischen dem 3. Jahrhundert v. Chr. und dem 1. Jahrhundert n. Chr. das östliche Zentralasien beherrschten. Mittlerweile ist diese Idee verworfen, allerdings durch keine andere ersetzt worden. Ostasiatische Ursprünge lassen sich aus Genanalysen ableiten, vielleicht wurde auch der Name der Xiongnu abgewandelt übernommen. Geschichtsschreiber sind ja auch nur Menschen. Der zeitliche Abstand zwischen dem Verschwinden der Xiongnu nach ihrer Niederlage gegen die chinesische Han-Dynastie und dem Auftreten der Hunnen beträgt aber etwa dreihundert Jahre, da ist eine direkte Abfolge eher unwahrscheinlich. Wir können natürlich nicht ausschließen, dass sich Nachfahren der Xiongnu bei den Hunnen hätten finden lassen. Mit der ethnischen Reinheit nahm man es damals nicht so genau. Wir müssen uns also mit dem Begriff des »zentralasistischen Steppenvolks« begnügen, wobei sich diese Verbünde häufig genug aus Stämmen durchaus unterschiedlicher ethnischer Herkunft zusammensetzten.

 

Reiten oder Schreiben?

Die Hunnen ritten lieber, als dass sie schrieben. Das machte im Zweifel mehr Spaß, man konnte Gegenden erobern, Schätze erbeuten oder zumindest Nahrung für sich und die Tiere finden. Was sollte man da aufschreiben? Für uns wäre es sehr hilfreich gewesen, wenn irgendein Schöngeist sich berufen gefühlt hätte, die Geschichte seines Volkes oder seiner Anführer und Könige zu dokumentieren. Als Schöngeist wäre man zu dieser Zeit allerdings schnell unter die Räder bzw. eher unter die Hufe gekommen – und dort schreibt es sich bekanntermaßen nicht so gut. So sind wir auf Berichte Dritter angewiesen. Jordanes (gest. nach 552), Chronist der Ostgoten, beschreibt die Hunnen und ihr »furchtbares Aussehen … Sie hatten nämlich ein schreckliches schwärzliches Aussehen … gewissermaßen einen abscheulichen Klumpen und kein Gesicht, eher Punkte als Augen.« Wir wollen vorsichtig bleiben und nicht alles wortwörtlich nehmen. Vielleicht war Herr Jordanes ja auch kurzsichtig. Zudem sind Geschichtsschreiber ja häufig eher Geschichtenschreiber und selten objektiv.

 

Piraten an Land 

Dass die Jagd auf eine Hirschkuh der Auslöser für die Eroberungszüge der Hunnen gewesen ist, wie es uns Jordanes erzählt, verweisen wir in das Reich der Legende. Um 360 war es wie so häufig das Klima, das die Sache ins Rollen brachte. In den vermutlich bis dahin bevorzugten Aufenthaltsgebieten der Hunnen in den asiatischen Steppenlandschaften wurde wohl das Wasser knapp. Diese Dürrephase lässt sich ganz gut durch die Analyse des Baumwachstums zu dieser Zeit belegen.

 

Die Hunnen ergaben sich nicht in ihr Schicksal, sondern wählten einen Weg, den wir vielleicht mit dem Begriff der Landpiraterie ganz gut umschreiben können. Sie setzten sich aufs Pferd und zogen dahin, wo es hinreichend Nahrung für Mensch und Tier gab – und idealerweise vielleicht auch noch etwas Beute. Sofern die besiegten Stämme bei den weiteren Eroberungszügen mitmachen wollten, waren sie willkommen, irgendwelche ethnischen Probleme mit Zugehörigkeiten und solchem Gedöns waren den Reiterkriegern fremd. So unterwarfen sie Stämme und Völker, eroberten aber nicht im klassischen Sinne die entsprechenden Regionen. So etwas wie eine zivile Verwaltung eines Staatswesens kannten die Hunnen nicht. Nahrung für Mensch und Tier war wichtig, Beute war wichtig.

 

Sicherlich hörten sie auf ihrem ungeplanten Zug nach Westen auch Geschichten über die Reichtümer Roms. Da blieb man doch gerne noch ein Stündchen länger im Sattel. Ambrosius, Bischof in Mailand, fasste die Lage Ende des 4. Jahrhunderts wie folgt zusammen: Die Hunnen »haben sich auf die Alanen geworfen, die Alanen auf die Goten und die Goten auf die Taifalen und Sarmaten; die Goten, aus ihrem eigenen Land vertrieben, haben uns aus Illyricum vertrieben. … Ein Ende ist noch nicht abzusehen.« Das war erst einmal eine korrekte Beschreibung der Tatsachen.

 

Was wir aus archäologischen Funden wissen, ist, dass die Hunnen auf Holzsätteln ritten, deren hohe Bögen vorne wie hinten es ihnen ermöglichte, ihre dreikantigen, geschmiedeten Pfeile sowohl in als auch gegen die Reitrichtung abzufeuern. Sie verzichteten im Gegensatz zu ihren Gegnern wie etwa den Sarmaten auf eine Panzerung und waren daher im Kampf deutlich beweglicher. So konnten sie ihre überlegene Waffentechnik, den Bogen, flexibel und wirksam einsetzen. Dies war die wesentliche Grundlage des Erfolges, der sie bis tief nach Europa brachte. Die Bögen wurden in langwieriger Kleinarbeit aus Horn, Knochen, Sehnen, unterschiedlichen Hölzern in einer Länge von 130 Zentimetern zusammengeleimt. Damit waren sie um zwei Drittel länger als die bis dahin üblichen Bögen. Heute sprechen wir von Technologieführerschaft.

 

Der Weg nach Westen: Alanen…

Wie wir von dem Bischof Ambrosius gehört haben, löste die »Wanderung« der Hunnen, eher der »Ausritt«, eine Kettenreaktion aus. Der erste uns bekannte Dominostein war 374 das Volk der Alanen, ebenfalls ein Reitervolk. Sie waren die östlichen Verwandten der iranischstämmigen Sarmaten, die wir schon gegen die Römer haben kämpfen sehen.

 

Ursprünglich nordöstlich des Kaspischen Meeres beheimatet, mussten sie bereits Mitte des 1. Jahrhunderts n. Chr. den östlich davon lebenden Nomadenvölkern, wahrscheinlich der Xiongnu, weichen. Die Alanen hatten sich damals in das Gebiet zwischen Wolga, Don und dem Kaukasus zurückgezogen, von wo sie nun neuerlich vertrieben wurden. Einige machten im Folgenden einfach bei den Hunnen mit, es schien sich ja zu lohnen. Wir finden später alanische Gruppen auch bei den Westgoten sowie bei den Vandalen und Sueben, mit denen sie an der Jahreswende 406/407 den Rhein überwanden, und entsprechend später auf der iberischen Halbinsel und in Nordafrika. Man kommt schon rum in der Welt als Reiternomade. Andere blieben zu Hause. Ab dem 9./10. Jahrhundert existierte im Kaukasus zwischen Schwarzem und Kaspischem Meer ein Königreich Alanien, umgeben von den Tscherkessen, Georgiern, Durdsuken und Kyptschaken. Ich erwähne dies nur, weil es recht unwahrscheinlich ist, dass wir all diesen Kollegen nochmal begegnen. Auch Reiche wie Derbent, Khundzia, Lekia, Schwirwan, Kachetien-Heretien, Taschirir, Aran, Arzach, Sjunik, Sjunik-Baghk und Gogth, die alle im Kaukasus um die erste Jahrtausendwende versammelt waren, tauchen in unserer Geschichte nur an dieser Stelle auf. Vielleicht unfair diesen Ländern gegenüber, aber wir denken an Bill Gates: »Life’s not fair, get over it!«

 

Es war also nicht so, dass die Hunnen das gesamte Volk der Alanen vertrieb, das dann wiederum Druck auf die Goten ausübte und diese auf den Weg Richtung Römisches Reich drängte. Natürlich flohen viele Richtung Westen zu den Goten. Aber viele Alanen schlossen sich dem lukrativen Beutezug der Hunnen einfach an, während wiederum andere in der Heimat blieben. Vermutlich waren dies eher die Älteren und diejenigen mit Pferdehaarallergie. Es waren zumindest so viele, dass es sechshundert Jahre später noch zu einem eigenen Reich im Kaukasus gereicht hat.

 

Es ist damit recht eindeutig, dass es den homogenen Volksstamm der „Hunnen« gar nicht gegeben hat, sondern dass sich auf ihren Wanderungen oder Beutezügen andere, unterworfene Völker den Siegern angeschlossen haben. So stieg die hunnische Handlungsmacht, allerdings auch der Bedarf nach Fläche, um Menschen und Tiere zu ernähren. Dies wird den Expansionsdruck erhöht haben, der sich gegen Ende des 4. Jahrhunderts immer mehr nach Westen richtete und so irgendwann auf die nördlich des Schwarzen Meeres siedelnden Goten traf. Für diese galt im Grunde das Gleiche, da auch sie eine Wanderung hinter sich hatten, auf der es mit aller Wahrscheinlichkeit zu Vermischungen mit anderen Stämmen gekommen ist. Insofern ist der Begriff der »Völkerwanderung« etwas irreführend, da eben nicht homogene Völker durch Europa gezogen sind. Es waren sicherlich nur Teile eines Volkes, die aufgebrochen sind und die Heimat verlassen haben, wenn es denn »zivile« Gründe waren, die die Menschen forttrieben. Nahrungsmangel und Überbevölkerung wären Beispiele.

 

…Greutungen…

Nach den Alanen waren also die Greutungen die nächsten in der Kette. Diese siedelten im Gebiet der heutigen Ukraine und waren die Vorläufer der späteren Ostgoten. Die Unterscheidung in Ost- und Westgoten hat dabei nicht allein einen geographischen Ursprung, auch wenn die späteren Siedlungsgebiete sich so darstellten. Der Name Greutungen bedeutet so viel wie Steppen- oder Strandbewohner. Die andere Bezeichnung für diese Volksgruppe war Ostrogothi, wobei das »Ostro« sich von dem germanischen austra für »östlich« oder austro/ausra »glänzend, strahlend« herleiten soll. Ähnlich verhält es sich bei den Westgoten. Deren Vorläufer sind die Terwingen. Dieser Name steht für »Waldleute«. Das ebenfalls verwendete Visigothi für »die edlen, guten Goten«. Wir werden sie uns später noch genauer ansehen.

 

Das Spiel mit den Greutungen ging genauso aus, wie das mit den Alanen. Ein Teil schloss sich den Hunnen an, ein anderer blieb in der Heimat. Wir finden in dieser Gegend noch lange ihre Zeugnisse. Noch im 16. Jahrhundert wurde auf der Krim Gotisch, eine Form des Ostgermanischen gesprochen. Wörter wie reghen, stul oder handa übersetzen sich fast selbst in Regen, Stuhl und Hände.

 

Für immer blieb Ermanarich (gest. 376, reg. bis 376) in seiner Heimat, seines Zeichens der erste historisch belegte König der Greutungen. Er wehrte sich gegen den Hunneneinfall, hatte mit seinen Kriegern, in der Hauptsache gepanzerte Lanzenreiter, gegen die überlegene Waffentechnik seiner Gegner jedoch keine Chance. Die Legende erzählt, er habe sich angesichts der Niederlage selbst das Leben genommen.

 

Die Greutungen wollten sich nicht geschlagen geben, selbst als Ermanarichs Nachfolger Vithimiris (gest. 376, reg. 376) kurz nach seinem Amtsantritt im Kampf fiel. Nicht jeder wollte mit den Hunnen ziehen, nicht jeder zu Hause bleiben. So verbündeten sich eine größere Gruppe von Greutungen mit Alanen, die ebenso dachten und auch mit Hunnen, die ihrem Führer abtrünnig geworden waren. Dieser Verband zog gen Westen, um im Römischen Reich Schutz zu suchen. Wenn Du aufmerksam warst, wirst Du Dich an die Schlacht zwischen Fritigern und Valens im Jahr 378 erinnern, die der römische Kaiser dank des Eingreifens eines Verbandes von Greutungen verlor. Jetzt wissen wir, wo diese Truppe ihren Ursprung hatte.

 

…und Terwingen

Doch zurück zu den Hunnen. Der nächste Volksstamm, der auf dem Weg nach Westen lag, waren die Terwingen. Auch diese wurden besiegt. Ihr Anführer hieß Athanarich (gest. 381, reg. bis 380), der sich ab 365 in vielen Kämpfen mit den Römern etwas aufgerieben hatte. Nach innen hatte er etwas gegen die Christen, die er systematisch verfolgen ließ. Dies führte zur Abspaltung der arianischen Minderheit unter Fritigern, der uns ja bereits begegnet ist. In dem inner-terwingischen Bürgerkrieg konnte sich Athanarich behaupten, musste aber bald einsehen, dass er gegen die Hunnen wenig Chancen hatte. Zudem liefen immer mehr Terwingen zu Fritigern über, der sich dann ja 378 bei Adrianopel auch erfolgreich gegen die Römer unter Valens durchsetzen konnte.

 

Und nun die Römer?

Die Hunnen hatten die Alanen, die Greutungen und die Terwingen besiegt, Teile von ihnen aufgenommen und standen an der Grenze zum Römischen Reich. Insgesamt können wir ihr Vordringen nach Westen in zwei größere Phasen einteilen. Zuerst drangen sie in die Region nördlich des Schwarzen Meeres vor, was für Rom die Krise der Jahre nach 376 mit dem Höhepunkt der Niederlage von Adrianopel 378 bedeutete. Im zweiten Teil, der dann vielfältige Bewegungen auslöste, erreichten sie die ungarische Tiefebene. Burgunder, Vandalen, Alanen, Sueben und die Goten waren die wesentlichen Leidtragenden.

Es dauerte allerdings ein wenig, bis diese hunnische Ausbreitung für Rom unangenehm wurde. In den Jahren nach dem 382 von Theodosius geschlossenen Frieden mit den Goten, der ihnen Siedlungsraum südlich der Donau gegen Stellung von Kämpfern für die römischen Legionen sicherte, kam es zu keinen nennenswerten Auseinandersetzungen zwischen Rom und fremden Völkern. Auch unter diesen blieb es, soweit wir wissen, ruhig. Dann wurde es bunt.

 

395 gab es im Osten die ersten kriegerischen Kontakte Roms mit den Hunnen. Diese waren unter ihren Führern Basich (um 395) und Kursich (um 395) über den Kaukasus nach Armenien vorgedrungen und zogen brandschatzend durch Syrien und Kleinasien. Eine Gruppe konnte von den Römern geschlagen werden, eine andere, die sich mit achtzehntausend römischen Gefangenen nach Osten gewandt hatte, von den Persern. Daraufhin zogen die Hunnen sich, immerhin mit Beute reich beladen, wieder über den Kaukasus nach Norden zurück.

 

Damit ist die Geschichte aber noch nicht zu Ende, wie wir das nächste Mal sehen werden. Ein Herr namens Attila hatte noch Ambitionen.