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(112) Ricimer und die letzten Kaiser

Schattenkaiser

Wir wollen nun mit dem Weströmischen Reich zu Ende kommen. "Rom" war für alle Beteiligten immer noch der gedankliche Bezugspunkt allen Denkens und Handelns, faktisch lief die Geschichte in Europa aber zunehmend am Reich vorbei. Insbesondere die Bedeutung der Herrscher im Westen schnurrte immer mehr zusammen.

 

Von den letzten Kaisern brauchen wir uns eigentlich keinen zu merken, manche sprechen von »Schattenkaisern«. Machen wir es also schnell. Auf Valentinian III. folgte 455 mit Flavius Petronius Maximus (396 bis 455, reg. 455) ein Kandidat aus den Reihen des Senats. Er  hatte es nicht leicht. Die Vandalen unter Geiserich wollten die Phase des Machtwechsels nutzen und griffen an. Rom wurde geplündert, der Kaiser von den Bürgern Roms auf der Flucht vor vandalischen Plünderern erschlagen.

 

Avitus hat Probleme

455/456 war dann Eparchius Avitus (um 385 bis 457, reg. 455 bis 456) an der Reihe, der sich mehr auf die Unterstützung der verbündeten »Barbaren«, vornehmlich der Westgoten stützte. Es ist nicht zu weit hergeholt zu sagen, dass Avitus den Thron dem westgotischen König Theoderich II. (gest. 466, reg. 453 bis 466) verdankte. Warum Geiserich nach seinem Erfolg in Rom keinen eigenen Kandidaten durchsetzen konnte oder wollte, ist ein wenig unklar.

 

Avitus dankte es Theoderich, indem er ihm erlaubte, nach Spanien zu ziehen, wo er die dort plündernden Sueben vernichtend schlagen konnte. Nun, dieser Erlaubnis hätte es nicht bedurft, da Westrom in Spanien kaum noch über Machtmittel verfügte. Entweder ist diese Darstellung eine euphemistische Überlieferung aus römischen Quellen, oder immerhin noch ein Hinweis auf die Bedeutung, die das Römische Reich immer noch in den Köpfen aller Beteiligten hatte.

 

Auch die Vandalen wurden nach der Plünderung der Stadt im Jahr 455 erst einmal militärisch in Schach gehalten werden. Dass Ostrom Avitus' Erhebung zum Kaiser nicht gutsagte, konnte er verkraften, solange Konstantinopel ihn zumindest tolerierte.

 

Sein eigentliches Problem lag in der Innenpolitik. Insbesondere die Abhängigkeit von den Getreidelieferungen aus Nordafrika machte ihm zu schaffen. Dort saß Geiserich mit seinen Vandalen und hatte den Export gestoppt. Die Römer litten Hunger, auch die Truppen der Foederaten, die Avitus unterstützt hatten. Dieser sah sich gezwungen, die Soldaten, die er nicht ernähren konnte, nach Hause zu schicken. Um sie zu bezahlen, wurden Bronzestatuen eingeschmolzen, was bei der hungernden Bevölkerung eher weniger gut ankam. Man selbst hatte nichts zu beißen und den Fremden zuliebe wurde die Stadt geplündert. Zudem hatte Avitus ohne diese Truppen kein Druckmittel gegenüber der Bevölkerung und dem Senat mehr. Diese wandten sich seinem Heermeister Ricimer zu, der, wie wir gleich sehen werden, auf einer Erfolgswelle ritt.

 

Die Ernennung Ricimers war aus heutiger Sicht Avitus‘ bedeutendste Tat. Dessen Dank war überschaubar, kurz nach seiner Erhebung stürzte er den Kaiser. Am 26. August 456 musste Avitus abdanken. Er durfte dann noch ein wenig Bischof in Placentia sein. Ein halbes Jahr später starb er. Ob sein Tod 457 gewaltsam oder natürlichen Ursprungs war, können wir nicht sicher sagen.

 

Ricimer hat Erfolg…

Ricimer war Sohn eines adeligen Sueben und der Tochter des westgotischen Königs Wallia. Er war am Hof Valentinians III. erzogen worden und hatte später wohl auch unter Aëtius gedient. Seine erste Aufgabe war es, der Bedrohung durch die Vandalen Herr zu werden. Diese hatten ja gerade Rom geplündert und nach ihrem Abzug einen starken Flottenverband zurückgelassen, der die italienische Küste blockierte. Ricimer gelang es, die Vandalen vor Korsika zur See und bei Agrigent auf Sizilien auch zu Land zu schlagen. Dies gab ihm hinreichend Rückenwind, Avitus und den ihm formal übergeordneten Heermeister Remistus (vor 437 bis 456) zu stürzen.

 

…und sichert ihn

Mit Majorian folgte 457 ein Mann auf den Thron, den wir zweihundert Jahre vorher in die Reihe der Soldatenkaiser gestellt hätten. Er hatte in dem Versuch, das Reich zu stabilisieren zu Beginn durchaus Erfolge. Italien, große Teile Galliens sogar bis nach Hispanien hinein wurden wieder unter Kontrolle gebracht. Einiges an Energie steckte er auch in die Verhandlungen mit Konstantinopel, um als augustus des Römischen Reiches bestätigt zu werden. Die Idee des imperium war immer noch in allen Köpfen.

 

Schließlich wurde auch er von Ricimer gestürzt und am 7. August 461 umgebracht. Eine erfolglose Strafexpedition gegen die Vandalen – bei Cartagena war der Kaiser im Jahr 460 Geiserich unterlegen gewesen – war wohl eher nur der Anlass. Der eigentliche Grund wird gewesen sein, dass Ricimer seine Rolle als starker Mann im Reich nicht an Majorian verlieren wollte. Offenbar spielte er kurzfristig auch mit dem Gedanken, sich selbst zum Kaiser zu machen, entschied sich letztlich aber dagegen. Bereits 457 war er vom oströmischen Kaiser Leo I. als Heermeister und patricius bestätigt worden, eine Absicherung, die er sicherlich ungern aufs Spiel setzte.

 

Aegidius macht sich selbständig

Ein Heermeister-Kollege von Ricimer, Aegidius (gest. 464/465), wollte diesen Umsturz nicht mitmachen und zog sich nach Nordgallien zurück, wo es ihm gelang, mit den Resten der gallischen Legionen in der Picardie bei Soissons einen eigenen Machtbereich aufzubauen und zu halten. Ricimers Machtbasis war Italien, so konnte er die Loslösung des nordgallischen Gebietes unter Aegidius eher verschmerzen, wenn er auch mit Unterstützung seiner gotischen Verwandten versuchte, diesen Verlust wettzumachen. Aegidius konnte sich jedoch auch gegen die Westgoten erfolgreich verteidigen, die 463 bei Orléans eine schwere Niederlage erleiden mussten. Ein von ihm geplantes Bündnis mit den Vandalen gegen Ricimer kam nicht mehr zustande. 464 oder 465 starb Aegidius. Sein Herrschaftsgebiet hielt sich weitere zwanzig Jahre und ist als "Reich des Syagrius" (gest. 486/487) auf der ein oder anderen Karte aus dieser Zeit zu finden. Syagrius, der Sohn des Aegidius, wurde dann aber 486/87 von den Franken unter Chlodwig I. (466 bis 511, reg. 481/482 bis 511) besiegt und umgebracht.

 

Ein neuer Kaiser aus Konstantinopel

Auf Majorian folgte 461 mit Flavius Libius Severus ein Mann, der lediglich die gefügige Marionette Ricimers war. Konstantinopel verweigerte ihm zudem die Anerkennung als augustus. 465 starb Libius Severus. Die Gerüchte, dass Ricimer in vergiftet habe, beruhen wahrscheinlich auf missgünstigen Zuschreibungen, ein nachvollziehbares Motiv ist für uns zumindest nicht erkennbar, auch wenn der Heermeister seine Machtstellung natürlich immer wieder verteidigen und sichern musste.

 

Das war häufig auch ein wenig schwierig. Ricimer konnte zum einen weitere Plünderungszüge der Vandalen nicht ganz unterbinden.  Zum anderen war er nicht in der Lage oder vielleicht auch nicht willens einen neuen Kaiser zu inthronisieren. So ein Grüßaugust auf dem Thron kann ja manchmal auch nerven. Auf jeden Fall folgte nun die bereits erwähnte zweijährige Reminiszenz an das geeinte Römische Reich unter der Führung des oströmischen Kaisers Leo I., die faktisch aber die Alleinherrschaft Ricimers im Westen bedeutete. Sich selbst auf den Kaiserthron zu setzen, traute er sich allerdings weiterhin nicht.

 

Aus Konstantinopel, aber vor allem auch aus der italischen Oberschicht wurde der Druck größer, wieder einen Kaiser für den Westen zu benennen. Die Motive mögen unterschiedlich gewesen sein. Ostrom wollte Ricimers Macht einhegen, der Adel im Westen sich nicht dem Osten unterordnen.

 

Leo schlug Flavius Procopius Anthemius (um 420 bis 472, reg. 467 bis 472) vor, einen Enkel des oströmischen Heermeisters zu Zeiten von Arcadius und Theodosius II., der an der Errichtung der Theodosianischen Mauer beteiligt war. Der designierte Kaiser erschien 467 mit starken von Leo finanzierten Truppen in Italien und wurde am 12. April zum augustus ausgerufen. Auch der Vandalenkönig Geiserich hatte versucht, einen eigenen Kandidaten durchzudrücken, konnte sich aber nicht durchsetzen. Ricimer heiratete – aus tiefer Liebe oder zur Sicherung der eigenen Position, wir wissen es nicht – Anthemius‘ Tochter Alypia (um 470). Valentinian III. hatte ein paar Jahre zuvor eine solche Verbindung, die geplanten Heirat seiner Tochter mit dem Sohn von Aëtius, noch massiv abgelehnt. Ein kleines Indiz für den Verfall der Kaisermacht.

 

Geiserich setzt sich durch

Anthemius und Ricimer sahen in der vandalischen Herrschaft in Nordafrika das existentielle Problem für das verbliebene Weströmische Reich. Solange die Vandalen die Kornkammer Nordafrika beherrschten, konnte das Kernland Italien nicht vernünftig regiert werden. Also beschloss man einen Kriegszug gegen Geiserich. Die Unterstützung aus Konstantinopel, das Geld und Soldaten stellte, führte auch zu einigen Erfolgen, beispielsweise der Vernichtung der vandalischen Flotte. Letztlich scheiterte jedoch der Versuch, die Vandalen aus Nordafrika zu vertreiben. 468 wurde die Flotte des oströmischen Generals Basiliskos (gest. 476) besiegt, die Sache war entschieden. Auf einen Friedensvertrag musste man allerdings bis 474 warten. Nachdem Leo gestorben war, einigte sich sein Nachfolger Flavius Zenon (gest. 491, reg. 474 bis 491) mit Geiserich. Nordafrika, die Balearen, Korsika, Sardinien und Sizilien wurden offiziell als vandalisches Herrschaftsgebiet bestätigt.

 

Es geht zu Ende

In Folge ging auch der Feldzug gegen Eurichs II. Westgoten schief. Anthemius Sohn Anthemiolus (gest. 471) fiel und das letzte halbwegs einsatzfähige Heer Westroms wurde vernichtet. Gallien war gänzlich verloren. Ob diese Schicksalsschläge der Auslöser waren, wissen wir nicht. Auf jeden Fall erkrankte Anthemius 470. Die Schuld hierfür sah er in seinem Umfeld, das ihn verzaubert habe. Er versuchte, sich zu wehren. Der Chef der Hofverwaltung (magister officiorum) Romanus (gest. 470), ein Gefolgsmann Ricimers, wurde hingerichtet. Der eigentliche Widersacher war natürlich Ricimer selbst, aus dessen Einfluss der Kaiser zu entkommen suchte. Sein Kollege Leo hatte im Osten gerade den Heermeister Flavius Ardaburius Aspar (um 400 bis 471) ermorden lassen und riet Anthemius, mit Ricimer in gleicher Weise zu verfahren. Wenn Kaiser unter sich so die Probleme der Welt besprechen.

 

Ricimer wandte sich folgerichtig nun wirklich von Anthemius ab. Er zog sich nach Mailand zurück, machte sich frisch, ordnete seine Truppen und rief Olybrius (gest. 472, reg. 472) als Gegenkaiser aus, einen Kandidaten des alten Feindes Geiserich. In der Not frisst der Teufel Fliegen. Den folgenden Bürgerkrieg gewann Ricimer, auch weil Ostrom finanziell ausgeblutet war und keine Unterstützung mehr schicken konnte. 472 wurde Rom, wo Anthemius residierte, belagert, erobert und nach 410 und 455 zum dritten Mal geplündert. Anthemius wurde hingerichtet. Ricimer hatte von diesem Erfolg jedoch wenig, er starb selbst wenig später.

 

Aus diesen Jahren stammen auch Berichte über Ereignisse, die die Menschen damals zunehmend verunsicherten und als Zeichen des Endes der römischen Herrschaft gedeutet wurden: 467 wurde Ravenna von einem Erdbeben erschüttert. 472 brach der Vesuv aus, die Asche wehte bis Konstantinopel. Auch im Osten bebte die Erde und es kam zu Flutkatastrophen. Keine gute Zeit.

 

Die letzten Kaiser: Von Olybrius bis Romulus Augustulus

Wie die Sache um Westrom stand, können wir an dem Nachfolger auf dem Kaiserthron erkennen. Es war Olybrius, der noch von Ricimer ernannte Kandidat des Vandalenkönigs Geiserich. Er war römischer Senator und Ehemann von Valentinians Tochter Placidia, also durchaus ein Mann mit Renommee. Geiserichs Sohn Hunerich war mit Placidias Schwester Eudocia verheiratet. Wir erinnern die Geschichte mit der unglücklichen Tochter des westgotischen Königs Theoderich I.

 

Nachdem die Westgoten sich aus der Partnerschaft mit den Römern gelöst hatten und ihr eigenes Ding machten, musste man dringlichst auf die Vandalen zugehen, um nicht nur von Gegnern umgeben zu sein. Die Abhängigkeit von den Getreidelieferungen aus Afrika war dabei natürlich eine zentrale Motivation. Die Erhebung zum Kaiser brachte Olybrius wenig Glück, er starb nur sieben Monate später an einer Herzkrankheit, vermutlich Wassersucht.

 

Auf Olybrius folgte nach einigen Monaten der Findungsphase Glycerius (um 420 bis um 480, reg. 473 bis 474). Hinsichtlich der Nachfolgeregelung war aber die auf dem Heermeisterposten fast interessanter. Hier lag die militärische und damit auch politische Macht. Nach Ricimer erhielt dessen Neffe Gundobad (gest. 516, reg. 480 bis 516), später König der Burgunder, diesen Posten. Eigentlich lag es an Leo I. in Konstantinopel, einen Nachfolger für Olybrius zu benennen. Da er damit zu lange zögerte, machte Gundobad Nägel mit Köpfen und setzte Glycerius auf den Thron.

 

Gemeinsam schafften sie es im Jahr 473, Italien vor einem weiteren Vordringen von Eurichs Westgoten zu bewahren. Immerhin ein Erfolg für das wankende Reich. Lange hielt das Glück allerdings nicht. Gundobad war seine Karriere in der Heimat wichtiger. 474 kehrte er Italien den Rücken und zog sich in das Burgunderreich zurück. Vielleicht war er aber auch nur vorsichtig.

 

Julius Nepos wird hingeschickt…

Leo I. hatte sich mittlerweile entschieden und schickte quasi schon auf dem Sterbelager Julius Nepos (um 430 bis 480, reg. 474 bis 480) mit einem Heer nach Italien, auf dass er dort Kaiser werden solle. Vielleicht war es auch schon sein Nachfolger Zenon, der diese offene Flanke schließen wollte. Als Heermeister Dalmatiens – er war dort Nachfolger seines Onkels Marcellinus, der sich dort ja fast selbständig gemacht hatte – war Nepos militärisch erfahren. Gundobad konnte also leicht zu dem Schluss kommen, dass er mit hoher Wahrscheinlichkeit in einer Auseinandersetzung unterliegen würde. Mit seinem Rückzug stand allerdings Glycerius im sehr kurzen Hemd und allein auf der Bühne. Er ergab sich also und hatte das Glück, nicht enthauptet zu werden. Als Bischof von Salona, einem Ort nahe Split, konnte er noch einige Jahre hoffentlich zufrieden leben.

 

…und fortgeschickt

Viel Glück hatte sein Nachfolger Julius Nepos trotz der Unterstützung aus Konstantinopel auch nicht. Gundobads Nachfolger als Heermeister, ein Herr namens Orestes (vor 430 bis 476), verjagte ihn bereits im August 475. Dabei hatte Nepos ihn kurz vorher erst selbst ernannt, vermutlich weil er hoffte, über ihn das Heer auf seine Seite ziehen zu können. Manchmal irrt man sich im Leben.

 

Dieser Orestes hatte ein bewegtes Leben hinter sich. Aus Pannonien stammend war er zum Sekretär Attilas aufgestiegen und hatte auf hunnischer Seite mit oströmischen Gesandtschaften verhandelt. Nun war er Heermeister in Italien und damit der starke Mann im Weströmischen Reich, das allerdings auch nur noch aus Italien bestand. Er erhob seinen Sohn Romulus Augustus (um 460 bis nach 476, reg. 475 bis 476) zum Kaiser. Wir kennen ihn aus der Überlieferung als das Kaiserlein Romulus Augustulus. Viel mehr konnte er nicht mehr tun, da Odoaker vor der Tür stand.

 

Nächstes Mal lassen wir ihn rein.